Inklusion auf dem Bauhof
Wenn man bedenkt, dass Jörg nie sprechen und hören konnte, ist die Gebärdensprache und Zeichensprache eine andere, als bei Menschen, die später im Leben gehörlos wurden. Menschen, die vorher sprechen und schreiben konnten, wissen zum Beispiel, wie ein „A“ gesprochen und geschrieben wurde und können leichter kommunizieren. Für Jörg ist nicht die Katze gleich Katze oder eine Motorsäge eine Motorsäge. Für Jörg ist die Motorsäge ein Gerät zum Arbeiten, den Namen dafür kennt nur er.
Aufgrund der eingeschränkten Kommunikation wurde gemeinsam mit dem Integrationsamt zusätzlich ein sogenannter Pager angeschafft. Die Komponente besteht aus einem Sender und einem Empfänger und dient zur einfachen Kommunikation. Durch unterschiedliche Vibrationen, ähnlich Morsezeichen, kann die Kommunikation auf das Wesentliche, wie z. B. „Schau her“, „Komm her“ oder aber „Achtung, Gefahr!“ oder „Pause“ etc. eingestellt werden. Die Geräte haben die Größe eines Mobiltelefons und können in der Jackentasche getragen werden.
Aufgrund seiner ausgeprägten Feinfühligkeit und Sehfähigkeit, erfasst er Situationen schnell und gleicht sein Defizit perfekt aus. Nachdem wir gesehen haben, dass die Integration hervorragend funktioniert, wurde Jörg auch in weitere Arbeitsprozesse und Kolonnen eingebunden. Bauchschmerzen hatten wir anfangs bei Grünpflegearbeiten an Gemeindestraßen. Wenn man aber bedenkt, dass Jörg den Führerschein besitzt und Auto fährt und das hervorragend hinbekommt, musste es doch auch hier funktionieren. Hier hatte ich selbst eine Situation erlebt, die es wohl am besten beschreibt: nach einem Sturmschaden, bei dem mehrere Personen mit Jörg an einem unübersichtlichen Kurvenbereich einer Gemeindestraße arbeiteten, machte uns Jörg darauf aufmerksam, dass dort etwas herannaht. Dies tat er aber noch bevor der Lkw überhaupt für uns Hörende zu sehen war. Oder bei Tätigkeiten mit motorbetriebenen Geräten, wie beim diesjährigen Weihnachtsbaum aufstellen. Wenn die Motorsäge oder der Rasenmäher vom Kollegen nicht mehr läuft, weil das Benzin ausgegangen ist, hat Jörg den Kanister schon in der Hand. So gibt es unzählige Beispiele von den Kollegen, die von den täglichen Arbeitsprozessen berichten und deutlich machen, wie selbstverständlich der Umgang und die Kommunikation mit Jörg für uns geworden sind.
Die komplette Einbindung von Jörg erfolgte mit dem Einsatz im Winterdienst. Hier erfolgt die Integration mit Unterstützung seiner Familie. Wenn man bedenkt, dass wir gegenüber der sonst festen Arbeitszeiten hier Rufbereitschaftszeiten haben, und die Einsätze angepasst auf die jeweilige Wettersituation durch den Einsatzleiter erfolgen, stellte sich für uns die Frage, wie erreichen wir Jörg um 4:30 Uhr oder 5:30 Uhr?
Jörgs Familie bekommt vorab die Rufbereitschaftspläne und wird je nach Wetterlage über das Telefon durch den Einsatzleiter informiert. Aber auch hier hatten wir schon besondere Situationen: bei einem extremen Schneefall über mehrere Tage war Jörg meist vor dem Einsatzleiter auf dem Bauhof. Er spürte, dass es losgeht.
Für erste Erfahrungen und um eine gefahrlose Integration zu gewährleisten, wurde der Arbeitsbereich anfänglich auf Tätigkeiten für die Pflege von Parkanlagen, wie dem Walter-Peters-Park, beschränkt. Hier hat es zwischen dem Kolonnenführer Herrn Herrmann und Jörg auf Anhieb gut funktioniert. Schon nach wenigen Tagen konnte hier die Aussage getroffen werden: Jörg sieht die Arbeit einfach. Hier spielten sicherlich auch seine langjährigen Erfahrungen und Arbeiten auf dem elterlichen Hof eine große Rolle. Heute, nach vier Jahren, kommunizieren die beiden die Arbeitsabläufe oder wann wer in Urlaub geht so, als würden sie miteinander sprechen.
Für einige Menschen in der Gemeinde, die Jörg nicht kennen, mögen manche Arbeitssituationen sicherlich befremdlich wirken. Sie wissen nicht, dass er nicht sprechen kann und sich über Laute und Zeichen verständigt. Auch ist es schon vorgekommen, dass Personen auf dem Bauhof anriefen und der Meinung waren, er würde nicht gut behandelt und "der schreie ja nur". Die Fähigkeiten, die Jörg mitbringt, übertreffen so manches Mal derer, die sprechen und hören können.
Die Integration von Jörg konnte und kann nur mit der Bereitschaft und dem Einlassen des Arbeitgebers, der Kollegen vom Bauhof und der Schaffung solcher Arbeitsplätze durch Verwaltung und Politik erfolgen. Die soziale Einbindung und Verantwortung, egal ob gefördert oder nicht, erkennen wir auf dem Bauhof ganz einfach.
Nicht nur aus Verwaltungssicht zum Arbeits- und Gesundheitsschutz oder als personalverantwortlicher Bauhofleiter und Fachkraft für Arbeitssicherheit der Stadt Schneverdingen, mussten Fragen wie Unterweisung, Kommunikation und Einbindung in die Arbeitsabläufe neu überdacht werden. Hier waren vorab gemeinsame Gespräche mit der Betriebsärztin oder dem Integrationsamt notwendig. Die jährlichen Unterweisungen im Umgang mit motorbetriebenen Geräten werden zum Beispiel mit der Hilfestellung einer Gebärdendolmetscherin durchgeführt.
Wir sehen
Wir hören
Wir sprechen
und Wir spüren dass Jörg sich wohl fühlt.
Thomas Krieg,
Bauhof Stadt Schneverdingen
Erschienen in der Böhme Zeitung am 1.12.2015